Ich kann mich noch gut an meine Anschlussheilbehandlung, früher nannte man das Reha für Rehabilitation, nach meiner Herzoperation erinnern. Dort wurden unterschiedlichste Anwendungen, Untersuchung und Hilfestellungen angeboten. An zwei solcher Anwendungen kann ich mich noch sehr gut erinnern. Die eine war ein sogenannter „Treppentest“. Der Treppentest bestand darin, dass wir als Gruppe runter in den Keller ins Treppenhaus gingen. Dort angekommen ging nun ein Patient nach dem anderen die Treppen bis ganz nach oben in den dritten Stock. So mussten wir nun also 5 Etagen Treppensteigen. Das waren zusammengenommen genau 105 Stufen, die es galt, nach oben zu steigen. Ich erinnere mich noch so gut an diesen Treppentest, da ich es beim ersten Mal nicht schaffte, diese 105 Stufen bis ganz nach oben ohne kurze Pause zu bewältigen. Ich schaffte bei meinem ersten Versuch lediglich 82 Stufen, bis ich vollkommen außer Atem eine Pause einlegen musste. Erst ab dem zweiten Versuch schaffte ich die volle Distanz der 105 Stufen, indem ich mit langsamer Geschwindigkeit, aber in kontinuierlichem Tempo die Stufen erklomm. Dieser Treppentest wurde in jeder Woche einmal durchgeführt, so konnte ich tatsächlich erkennen, dass mir das Steigen dieser 105 Stufen mit jeder verstrichenen Woche voller Anwendungen und Aktivitäten leichter viel.
Zusätzlich zu den stets angebotenen Anwendungen habe ich jeden Abend meine Übungseinheiten durchgeführt. Ich fragte bei meinen Betreuern nach, ob ich den abends Sporteln dürfe. Ich erhielt, aus medizinischer Sicht betrachtet, die Erlaubnis, im Haus so viel Bewegung und Sport zu machen, wie ich wollte. Das Haus verfügte dazu auch über einen sehr gut ausgestatteten Fitnessraum mit vielen verschiedenen Geräten und eben über ein Treppenhaus. Ich fand mich also jeden Abend, manchmal vor einer Übungseinheit mit Kraftraum oder Ergometer, manchmal danach im Treppenhaus wieder.
Dort stiefelte ich die 105 Stufen nach oben, ruhte mich dort kurz aus und ging wieder nach unten in den Keller und direkt wieder nach oben zu steigen. Dieses Prozedere wiederholte ich dann so lange, bis ich es kaum noch schaffte, mich auf den Beinen zu halten.
Ein zweites und für mich sehr beeinflussendes Erlebnis in dieser Anschlussheilbehandlung waren die Einheiten des „Nordic Walking“, welches wir dort jeden zweiten Tag als Anwendung absolvierten. Nordic Walking! Das sind die Mädels und Jungs, die durchs flache Terrain stiefeln, munter ihre Skistöcke schwingen und dabei wohl nicht bemerken, dass sie ihre Skier zu Hause vergessen haben. Ich fand zu diesem Zeitpunkt das Nordic Walking eher „für Alte geeignet“ und für alle „Nicht Alten“ ungeeignet, in Richtung peinlich tendierend. Für Menschen unter 50, wie ich zu dieser Zeit, ist Nordic Walking demnach vollkommen ungeeignet. Nordic Walking ist „gehen mit Armeschwingen“ mehr nicht. Ich hatte ja keine Ahnung, wie sehr ich mit dieser Meinung daneben lag.
Man stattete uns also mit zur Körpergröße passenden Nordic Walking Stöcke aus und lehrte uns auf der Wiese vor dem Gebäude die Technik des Nordic Walkings. „Wow, jetzt lerne ich also, wie ich mit den Armen meinen Spazierstock schwingen muss“, dachte ich zu diesem Zeitpunkt. Diese Meinung bestätigte sich dann auch recht schnell, da ich mit dem Erlernen der richtigen Technik, egal ob Pendelschwung oder Doppelstock keinerlei Schwierigkeiten hatte. Na ja, und dann ging es raus ins Gelände. Dort wurde ich dann recht schnell, sehr, sehr demütig. Ich wurde in meiner Meinung zurechtgestutzt und vom hohen Ross, auf dem ich saß, runter geworfen. Die erste Runde war exakt 2 km lang und mit zwei kleinen Anstiegen versehen. Diese 2 km mit den zwei kleinen Anstiegen reichten aus, um mich vollkommen außer Atem und entkräftet ans Ende der Gruppe zu spülen.
Wieder am Gebäude angekommen, brauchte ich mehrere Minuten, um mich etwas zu erholen und wieder atmen zu können. Auf meinem Zimmer angekommen, noch immer schwitzend ob der Anstrengung, realisierte ich, dass 2 km schnelles, forsches Gehen mit aktivem Armschwung zwecks Anschubs meine Leistungsgrenze darstellten. 2 km. 2. Gehen. Ab dem ersten Tag hasste ich die Anwendung „Nordic Walking“.
Gleichwohl wusste ich, dass es sehr sinnvoll für meinen Heilungsprozess wäre, wenn ich auch zu Hause Nordic Walking machen würde. Also kaufte ich mir ein paar Nordic Walking Stöcke. Als das Paket mit den Stöcken ankam, spürte ich, dass ich keine Lust auf Nordic Walking hatte. Ich wusste, wenn ich die neuen Nordic Walking Stöcke irgendwo hinstelle, wo ich sie NICHT jeden Tag sehe, werde ich niemals mit Nordic Walking anfangen.
Um meinen Schweinehund zu überlisten, stellte ich die neuen Stöcke direkt neben die Küchentür. Dort sah ich sie ständig und dauernd. Mit jedem Tag wurde der innere Druck in mir größer. Eine Stimme in mir sagte „Du hast dir diese bescheuerten Stöcke gekauft, jetzt nutze sie auch sonst war das rausgeworfenes Geld“. Ich schaffte es, diese Stimme 9 Tage lang zu ignorieren, dann war der Druck so groß, dass ich mir die Stöcke schnappte und damit rausging. Ich ging von zu Hause eine 4 km Rundweg, jedoch mit etwa 300 Höhenmetern. Es war megaanstrengend und ich schaffte den Weg nicht ohne einige Pause dabei einzulegen. Wenn ich von zu Hause loslaufe, gehe ich exakt 250 Meter bis zum Waldrand und weitere 350 Meter bis zum Neckarsteig, einem 126 km langen Wanderweg im Odenwald. Allerdings haben es diese 600 Meter mit 19 % Steigung in sich. Zuerst einmal war ich jedoch sehr überrascht, wie schön die Gegend ist, in der ich wohne. Da wohne ich seit Jahren im Dorf und war noch nie im Wald hinter dem Haus. Ich war vollkommen entkräftet, aber ungemein stolz, diese Runde geschafft zu haben. Ich spürte nicht nur die Anstrengung, die ich hier bewältigte, immerhin wog ich ja noch knappe 100 kg, ich spürte aber auch, dass diese Anstrengung genau das ist, was mein Körper braucht.
Also ging ich exakt den gleichen Weg an nächsten Tag noch einmal. Dabei stellte ich fest, dass der Weg mir nicht so schwer erschien wie an Tag zuvor. Ich stellte danach aber auch fest, dass ich Schmerzen im Schienbein verspürte. Ich hatte einen Muskelkater im vorderen Schienbeinmuskel (Tibialis Anterior). Mein Schienbeinmuskel war bisher auch nicht wirklich trainiert. Ich zog es früher ja vor, zum 200 Meter entfernten Zigarettenautomat mit dem Auto zu fahren statt zu laufen.
Also recherchierte ich, wie ich wohl den Schienbeinmuskel trainieren konnte. In den nächsten Tagen bemerkte ich dann, dass meine Muskeln unterhalb des Knies doch sehr deutlich verkümmert waren und ich mir einen Muskelkater nach den anderen zuzog. Also recherchierte ich, was ich in diesem Fall tun kann, und fand Folgendes heraus. Barfußläufer haben eine bessere Muskulatur in den unteren Extremitäten wie Schuhe-Läufer. Das halte ich für vollkommen logisch.
Jedes Hilfsmittel (Schuhe) führt dazu, dass der Körper irgendeinen Muskel entlasten kann, da der Schuh ja z. B. eine Stützfunktion übernimmt. Und wenn der Schuh stützt, brauch es der Muskeln ja nicht zu machen. Wenn die Muskeln in den unteren Extremitäten wenig stark sind, kann man auch nicht lange auf einem Bein stehen. Dann beginnt das Bein, auf dem man steht, recht schnell zu schmerzen. Dabei stellte ich dann auch noch fest, dass ich ein erbärmliches Körpergefühl in Bezug auf Gleichgewicht habe. Ich schaffte es gerade einmal 15 Sekunden auf einem Bei zu stehen. Mehr war nicht drin. Ich eierte 15 Sekunden auf einem Bein rum, und dann waren die Schmerzen schon so groß, dass ich das Bein wechseln musste. Na toll. Was tun?
Nun ja, die Lösung ist eigentlich ganz einfach. Jedes Training, welches eine Verbesserung eines Istzustandes herstellen soll, beginnt immer am Istzustand. Wenn ich also ein Marathonläufer werden will, beginnt mein Training dazu nicht mit einer Laufstrecke von 40 km, sondern bei der Laufstrecke, die ich als Istzustand heute schaffe. 0 km. Ich kann ja noch gar nicht laufen. Mir fällt es ja schwer, 4 km Nordic Walking zu machen und 15 Sekunden auf einem Bein zu stehen. Na, dann haben wir doch den Istzustand. 4 km Nordic Walking und 15 Sekunden Einbeinstand. Wie komme ich nun von diesem Istzustand zum Marathonläufer.
Eigentlich ganz einfach. Durch kontinuierliche Verbesserung des Istzustandes. Ich muss mein Training also nicht am Marathon ausrichten, sondern am Istzustand.
Ich wollte Seilspringer werden und habe begonnen mit 6! Sprüngen am Stück. Mehr war nicht drin. Aus 6 Sprüngen wurden 10, aus 10 Sprüngen wurden 10 Sekunden… 20… 30… 60… 120… Heute, 1 Jahr später mache ich 2 Stunden Work-outs mit dem Springseil. Alles, was ich brauche, um dort hinzukommen, ist das Selbstvertrauen mit einem für gesunde Menschen lächerlich anmutendem Istzustand zu beginnen. Am Neckarufer kann man recht häufig einen recht dicken Mann sehen, der sehr langsam läuft. Dabei sieht man ihm die Anstrengung sehr deutlich an. Aber er läuft regelmäßig bei jedem Wetter. Dieser Mann verdient unsere Hochachtung mehr als jeder, der läuft weil er Spaß daran hat, weil im das Laufen leichtfällt.
Wenn ich heute eines weiß dann, dass “Gesund werden” verdammt viel Arbeit, Anstrengung und Schweiß bedeutet und „Ich kann das nicht“ mir nicht dabei hilft.
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